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Sänger: Karl Lieck

Wassenberg1420

 

Kaddisch

(Totengebet)

 

Ende 1937 zog Betty es vor, der politischen Nähe und zunehmenden antisemitischen Konfrontation in Wassenberg, wo sie jeder kannte, auszuweichen und eine Dienstmädchenstelle in Solingen-Ohligs bei der jüdischen Familie Terack (Tabak) anzunehmen. Sie lebte dort wie eine Tochter, erzählt Bruder Walter, der ebenfalls bei einem Vetter seiner Mutter in Solingen in der Firma Kastor eine kaufmännische Lehre machte, nachdem ihn die Wassenberger Berufsschule hinausgeworfen hatte.

Im April 1938 kam großes Unglück über die Reis. Der im Hause wohnende Onkel Karl Hertz („Hertze-Karl“) wurde ganz plötzlich ohne Angabe von Gründen verhaftet. Ich weiß noch, wie man sagte: „Sie hant Hertze- Karl affjehollt!” Abgeholt! Karl Hertz hatte im Ersten Weltkrieg an der Ostfront gekämpft und wurde bei einem Granatüberfall verschüttet. Davon hatte er körperliche und seelische Beeinträchtigungen erfahren. Er war körperlich und geistig behindert. Eine Kriegsrente hat er nie bekommen. Er war absolut mittellos und auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Ich sehe ihn im Jahre 1933 die Gräben der ersten Wassenberger Wasserleitung ausheben. Ein armer Kerl! Wir Kinder verspotteten ihn, riefen ihm etwas nach, auch schon vor 1933!

Karl Hertz wurde nach seiner Verhaftung ins Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht. Lange hörte man nichts von ihm. Schließlich: am 24. Juni 1938 erhielten die Reis die Nachricht, Karl Hertz sei „auf der Flucht erschossen worden”. Ich weiß noch, daß manche Wassenberger darüber lachten, weil man sich den komischen, hilflosen, „halb-verrückten” Mann auf der Flucht vorstellte. Hertze-Karls Kleider und seine Asche, so erfuhren die Reis‚ könnten bei Hinterlegung eines Geldbetrages im Rathaus abgeholt werden. Die Reis hatten kein Geld. Schließlich wurden ihnen die Kleider „kostenlos überstellt”. Beim Durchsehen von Karls Sachen entdeckte Else Reis weder einen Durchschuss, noch einen Riss, noch Blutspuren. Auf der Flucht erschossen? Walter Reis schreibt mir: „Er war das erste Todesopfer der jüdischen Gemeinde Wassenbergs weil Onkel Karl, wie es damals hieß, ein nutzloser Mensch sei!” Und diese Auffassung teilten damals manche Wassenberger.

Bei Juden sprechen bekanntlich nur die Männer den Kaddisch, das Totengebet. Wie mag es Betty ums Herz gewesen sein, als Vater Willi den Kaddisch für Onkel Karl sprach. Wie Bruder Walter erzählt, hatte Betty immer Schwierigkeiten mit der Stellung der Frau im Judentum. Etwa mit der Stelle im Morgengebet: „Gesegnet seist Du, o Herr, unser Gott, König der Welt, der Du mich nicht als Weib geschaffen hast!” Es tröstete sie nicht, daß Frauen die Sabbatkerzen anzünden dürfen: den Kaddisch wollte sie sprechen!

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