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Sänger: Karl Lieck

Wassenberg1420

 

Schemot

(Exodus)

 

Wenige Tage nach dem Schreiben ihres Briefes erreicht auch Betty die Polizeiverordnung, dass sie den Judenstern zu tragen habe. Am 20. Januar 1942 findet die verbrecherische Wannsee-Konferenz unter Vorsitz von Heydrich statt: Die Endlösung! Der Plan sieht die Ermordung von rund 11 Millionen Juden in ganz Europa vor. Im besetzten polnischen Gebiet entstehen die Vernichtungslager Auschwitz, Birkenau, Belzec, Majdanek, Chelmno. Alle noch im Reich verbliebenen Juden sollen nun so schnell wie möglich aus ihren Judenhäusern nach Osten in die Vernichtungslager gebracht werden. Eichmann vom Reichssicherheitshauptamt IV schreibt unter 1093/42 am 31. Januar 1942 an die Gestapo—Leitstelle Düsseldorf: „Zur Zeit werden neue Aufenthaltsmöglichkeiten bearbeitet mit dem Ziel, weitere Kontingente aus dem Altreich, der Ostmark und dem Protektorat Böhmen und Mähren abzuschieben. Die in der in einzelnen Gebieten durchgeführte Evakuierung von Juden nach dem Osten stellen den Beginn der Endlösung der Judenfrage dar. gez. Eichmann”.4)

Die erste Deportation aus dem Rheinland nach Osten begann am 14. Oktober 1941 und sah als Aufnahmeort das Ghetto Lodz (von den Nazis Litzmannstadt genannt) vor. In dem Befehl dazu wurde zwecks Tarnung von „Evakuierung in den Osten” gesprochen. Weitere Transporte folgten: am 22. April 1942 nach Izbica, am 15. Juni nach Izbica, am 25. Juli nach Theresienstadt u.a..

Juden-Transportzug 1942.
Juden-Transportzug 1942. "Evakuierung, Aussiedlung".

Am 22. April 1942 sind die Wassenberger Juden aus dem Heinsberger „Klein-Ghetto” Manasses Lues, Westpromenade 26, dabei, also auch Bettys Eltern Willi und Else. Vermerk in den Gestapo-Akten: „Düsseldorf, Mittwoch, 22.4.1942, um 11,06 hat der Transportzug DA 52 den Abgangsbahnhof Düsseldorf-Derendorf in Richtung Izbica mit insgesamt 941 Juden verlassen. Transportbegleiter ist die Ordnungspolizei unter Hauptmann Gehrke, dem die namentliche Transportliste in zweifacher Ausfertigung mitgegeben wurde. 378 männliche und 554 weibliche Juden = 941 insgesamt.”

Wenige Wochen später trifft das geahnte, gefühlte, gefürchtete Geschick auch unsere Betty in der Lagerküche von Walheim bei Aachen. Ein Transport, der für sie unberechenbar wie eine Naturkatastrophe hereinbricht. Transportziel ist wiederum Izbica an der Eisenbahnlinie von Lublin nach Lemberg. Betty wird wie ihre Leidensgefährten erst wenige Stunden vor ihrem Abtransport benachrichtigt: 50 kg Gepäck, 100 Reichsmark, Nahrungsmittel für drei Tage. Mit einem Lastwagen nach Düsseldorf gebracht, muss sie unter strenger Bewachung auf dem Gelände des Schlachthofes auf die Abfahrt warten. Die ganze Nacht stehend, der Boden nass, Überlebende haben davon berichtet.5)

Mehrfach werden alle körperlich untersucht, ob in Körperöffnungen nicht Wertvolles versteckt ist. Jeder versucht, soviel wie möglich mitzunehmen. Die Unterwäsche wird doppelt angezogen, Frauen und Mädchen tragen mehrere Kleider übereinander. Immer wieder kommt es vor, dass Juden hier den Freitod wählen, weil sie ahnen, wohin die Reise geht.

Am 15. Juni 1942 ging der Zug in Koblenz-Lützel ab, in Düsseldorf stiegen die im Schlachthof wartenden Juden mit Betty zu. Viehwagen! Wer als Kriegsgefangener oder Flüchtling Viehwagentransporte erlebt hat, kann sich die Zustände darin vorstellen: Die Kälte der Nächte, Hunger, Durst, Angst, Schlaflosigkeit, ein Eimer als Toilette, Kranksein‚ Sterbende, stunden- oder tagelanges Abgestelltsein auf Nebengleisen, weil der kriegswichtige Schienen-Verkehr Vorfahrt hat. Und das 14 Tage lang.

Eines Wissen wir: Betty kam in Izbica an, und auch ihre Eltern waren mit dem Transport vorher dort angekommen. Denn von dort existieren mehrere Kartengrüße an Onkel Max Hertz in Theresienstadt. Max Hertz sagte mir: „Von Izbica erhielt ich einige Postkarten. Zweimal schrieb Mutter Else und zweimal Betty. Die Nachrichten kamen aus Izbica an der Weichsel, Kreis Krasnistrow.” Die nächste Nachricht von den Reis kommt über einen im Osten eingesetzten Wassenberger Soldaten in die Heimat. Gottfried Linden aus Wassenberg-Forst begegnet Willi Reis in der Nähe von Lodz (Litzmannstadt) und erfährt von Willi Reis, daß Mutter Else im Ghetto Lodz in einer Lagerküche arbeitet, und dass Betty, die wie ihre Eltern von Izbica nach Lodz verfrachtet ist, in einer Werkstatt als Uniformschneiderin tätig ist.

Lodz, die zweitgrößte polnische Stadt, besaß ein Ghetto, in dem bis zu 300.000 Juden eingesperrt waren. „Warteraum des Todes” nannte Jean Amery solche Orte; denn die dahinvegetierenden Menschen warteten, ohne es zu wissen, auf ihren Abtransport in die Vernichtungslager. Zahllose visuelle Zeugnisse aus dem Ghetto Lodz, aus diesem Zwischenreich der Vernichtung, sind erhalten geblieben, zumeist in den Erinnerungsalben der Henker. Aber auch 80.000 Paßfotos für Arbeitsausweise gibt es noch. An der Spitze dieses Ghettos stand der Judenälteste, der „Judenkönig von Lodz”, Chaim Rumkowski. Seine These lautete: „Unser einziger Weg ist Arbeit, ist Produktion für das Dritte Reich, ist kriegswichtige Notwendigkeit.” Im Ghetto richtete er ein: Holzfabriken, Möbelschreinereien, Nagelfabriken, Schlossereien, Maschinenfabriken, Geschoßherstellungsfabriken, Sattlereien, Schuh- und Stiefelfabriken und auch jene Werkstatt, in der unsere Betty gearbeitet hat: Betrieb Nr. 26 Schneiderei, Rembrandtstraße 14. Betty erhielt als Lohn wertloses Papiergeld, die Ghetto-Mark. Die Ernährungslage War katastrophal. Wegen der Kosten verringerten die Nazis die Rationen, die noch unter den Sätzen für Zuchthäusler lagen. Die Folgen waren Unterernährung, Hungertyphus, Infektionskrankheiten.

Schneiderei im Ghetto Lodz, wo Betty Reis bis Mitte 1944 arbeitete.
Schneiderei im Ghetto Lodz, wo Betty Reis bis Mitte 1944 arbeitete.

Nach und nach sollte nach einem Ausspruch des Regierungspräsidenten Uebelhoer „die jüdische Pestbeule ausgebrannt werden." Die sogenannten „Aussiedlungen” begannen. Täglich wurden bis zu 5.000 Juden abtransportiert. Man gaukelte ihnen einen Neubeginn in landwirtschaftlich orientierten Gegenden vor. Bei welchem Aussiedlungstransport sind Betty und ihre Eltern dabei gewesen? Anfang 1944 wurden die Einzelbetriebe, so auch Bettys Uniformschneiderei, aufgelöst. Arbeiterinnen und Arbeiter mussten sich am Bahnhof Radogast einfinden. 1944 gingen die Transporte nach Auschwitz-Birkenau. Auch der Judenälteste Chaim Rumkowski, der alles getan hatte, um sein Ghetto zu retten - er hatte sogar persönlich mit dem Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, verhandelt - wurde ganz zuletzt noch ins Todeslager deportiert und in die Gaskammer geschickt.

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