Von Heribert Heinrichs
„Viel Ungeheures ist, doch nichts so ungeheur wie der Mensch.”
Sophokles, Antigene
Menora
(Siebenarmiger Leuchter)
Als ich den Entschluss fasste, mein Wassenberg-Buch1) dem im Dritten Reich ermordeten gleichaltrigen Mädchen Betty Reis aus Wassenberg zu widmen, stellte ich fest, dass sein Schicksal weithin im Dunkel lag. Kaum ein Wassenberger, der sich ihrer erinnerte oder mehr von ihr wußte als ihren Namen. Wie war soviel Gedächtnisschwund möglich? Wer die ortsinterne Nachkriegssituation beobachtet hat‚ brauchte nicht erstaunt zu sein. Restaurative Nachkriegspolitik war an der Tagesordnung. Ich verehrte Adenauer, aber ich verstand um alle Welt nicht, warum er ausgerechnet Globke als Staatssekretär in sein Bundeskanzleramt holte, jenen Rassisten‚ der den Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen geschrieben hatte.
Die Auseinandersetzung mit dem Jahrtausendverbrechen des Holocaust vollzog sich, wie ich es sehe, zunächst verharmlosend („Alles wahnsinnig übertrieben!”), dann verdrängend („Man muss endlich damit aufhören!”)‚ schließlich relativierend („Die Kriegsgegner waren auch nicht besser! Massenmörder Stalin! Flächen-Holocaust auf deutsche Städte! Der Tod ungezählter deutscher Kriegsgefangener in sowjetischen und westalliierten Lagern!”). Ich setze dagegen: Nicht ein Toter, ganz gleich auf welcher Seite, lässt sich „relativieren”!
Mit dem jüdischen Dichter Heinrich Heine, der einst einen viertägigen Aufenthalt in Wassenberg (Hotel zur Post, Übernachtungsliste) hatte, will ich Betty Reis beklagen: „Ich kannte Dich nur von ferne, und doch trifft mich Dein Schicksal mitten ins Herz!” Welcher Wassenberger - Hand aufs Herz - hatte Sympathie für die Reis, die Schwarz, die Heumann, die Kaufmann, die Benjamin? Ich hörte noch 1987 von einer Wassenbergerin: „Die Reis, die waren doch letztlich asozial!” Asozial? Weil der „Zicke-Jiid” Willi Reis ab 1933 Berufsverbot und deshalb kein Einkommen mehr hatte? Jeder „Arier” wurde beschimpft, der bei ihm etwas kaufte. Die Erkelenzer Volkszeitung jener Jahre ist Beleg dafür. Dabei fühlte sich Bettys Vater als Wassenberger, als deutscher Jude. Und Bettys ganze Familie identifizierte sich mit Wassenberg heimatbewusst.
Im Ersten Weltkrieg hatte Vater Willi es bis zum Vizefeldwebel gebracht und war mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet worden. 12.000 Juden hatten ihr Leben für ihr deutsches Vaterland gegeben. Selbstverständlich war Willi Reis Mitglied des Kriegervereins Kyffhäuser. Da im Hutgeschäft meiner Eltern Kyffhäuser-Mützen verkauft wurden‚ weiß ich noch, dass Willi Reis seine Kyffhäuser-Mütze bei uns erwarb. 1933 erhielt er jedoch wie viele Juden im Kyffhäuser-Bund folgenden Brief: „Werter Herr Reis! Wir sind gezwungen, auf Ihre Mitgliedschaft im Kyffhäuser-Bund verzichten zu müssen. Hochachtungsvoll N.N.” Auch das vom Reichspräsidenten Hindenburg am 13.7.1934 gestiftete „Ehrenkreuz für Frontkämpfer” erhielt Willi Reis nicht.
Im Amtsgericht Heinsberg erfuhr ich, dass Betty Reis dort am 2. Februar 1953 für tot erklärt worden war. Und der Beamte des Standesamtes 1 in Berlin teilte mir urkundlich mit, dass als Zeitpunkt ihres Todes willkürlich der 31. Dezember 1945 festgesetzt worden sei. Im „Gedenkbuch” des Bundesarchivs Koblenz war als letzter Wohnort Stolberg vermerkt und für Todesdatum und -Ort der Hinweis „Unbekannt” angegeben. Im Wassenberger Rathaus fand ich Bettys Geburtsurkunde: „Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien der Metzger und Viehhändler Willi Reis und zeigte an, das von der Else Reis geb. Hertz in seiner Wohnung am 15. Juli 1921 nachmittags um 7 Uhr ein Mädchen geboren worden sei....” Da meine Großmutter Anna Maria Kreutzer damals die bestallte Hebamme Wassenbergs war, wird sie als Geburtshelferin im Hause Reis tätig gewesen sein. Die Geburtsurkunde Bettys hat zwei Besonderheiten: Standesbeamter Bartz trägt am 14.1.1939 ein, dass Betty den Namen „Sara” zu führen habe. Nach dem Kriege, am 20.6.1952, löscht der Beamte Kraus diese nazistische Namensgebung. Betty und Mutter Else brauchen nicht mehr „Sara” und Vater Willi nicht mehr „Israel” zu heißen.